„Frieden – Sehnsucht und Verheißung“ ist – liebe Schwestern und Brüder – der Titel der diesjährigen Reihe der Fastenpredigten. Aktueller kann ein Thema kaum sein. Die einzelnen Beiträge – „Gibt es einen gerechten Krieg?“ – „Frieden in Familie und Gesellschaft“ – „Frieden in der Kirche“ – führen uns die Spannungsfelder vor Augen, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, die uns auf die eine oder andere Weise betreffen und denen wir uns nicht entziehen können. Angesichts der Vehemenz dieser Konflikte und des Raumes, den sie in unserer Lebenswirklichkeit einnehmen, mag das heutige Thema – „Frieden im eigenen Herzen“ – wie eine nette Beigabe erscheinen, als etwas für fromme Seelen, für Leute im Kloster, für Menschen im Ruhestand, die nicht mehr in unmittelbarer Verantwortung stehen und die den Nachmittag oder Abend bei einer Tasse Tee oder einem guten Glas Wein genießen. „Frieden – Sehnsucht und Verheißung“, da schwingt die Frage mit, was wir tun können, damit Friede einkehrt in unserer Welt, und wir werden sehen: Der Friede im eigenen Herzen ist nichts Abseitiges, kein Privileg Einzelner, sondern ein Beitrag, den zu leisten wir alle gerufen sind. Der große Friede, der Friede in Gesellschaft, Kirche und Welt, er beginnt in uns, er beginnt im Einzelnen.

Es genügt ein Blick in die Heilige Schrift, um uns die Zusammenhänge deutlich zu machen. Ich war erstaunt zu sehen, wie oft das Wort „Frieden“ in den Evangelien und besonders in den Briefen des hl. Paulus und der anderen Autoren vorkommt. Unzählige Male! Die Ermahnung zum Frieden untereinander nimmt eine zentrale Stelle in der Verkündigung ein. Hören wir einige wohlbekannte Beispiele:

Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch, nicht wie die Welt ihn gibt. (Joh 14,27)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. (Röm 1,7)

Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und mit allem Frieden im Glauben. (Röm 15,13)

In euren Herzen herrsche der Friede Christi. (Kol 3,15)

Es sind wunderschöne Worte, die belegen, mit welcher Ernsthaftigkeit und Eindringlichkeit um den Frieden geworben wird.

Eine erste Beobachtung, die wir in diesem Zusammenhang machen: Der Friede, von dem da die Rede ist und der regelrecht aufstrahlt, ist von Gott geschenkt. Wir feiern dieses Jahr den 300. Geburtstag des wohl bedeutendsten Philosophen der Neuzeit: Immanuel Kant (1724 – 1804). Kant hat sich intensiv mit dem Thema „Frieden“ beschäftigt, sogar eine Schrift verfasst, die eine unmittelbare Grundlage war für die Schaffung des Völkerbundes, des Vorläufers der UNO. Für Kant entspringt der Friede unter Menschen und Völkern einer Setzung des Rechts. Der Friede ist Produkt der praktischen Vernunft.[1] Wie anders die Verheißung in der biblischen Verkündigung: Wenn der Friede Geschenk Gottes ist, dann besteht er nicht nur im Ausgleich der Interessen, sondern ist Fülle, lebendige Fülle. Das schwingt unbedingt mit bei der Vorstellung, dass der Friede von Gott kommt. Und dieser Friede – auch das klingt an den Stellen durch – ist den Einzelnen geschenkt aber auch der Gemeinschaft. Gerade im letzten Zitat wird deutlich: Wenn alle Frieden im Herzen haben, dann haben sie Frieden miteinander. Schon hier merken wir: Individueller Frieden ist keine Eigenart frommer oder weltabgewandter Seelen, keine bloße Begleiterscheinung des wohlverdienten Ruhestandes. Vielmehr hängen individueller Friede und äußerer Friede zusammen. Weitere Stellen aus dem Neuen Testament machen das ausdrücklich:

Im Übrigen, liebe Brüder, …, seid eines Sinnes und lebt in Frieden! (2 Kor 13,1)

Der Gott des Friedens aber … mache euch tüchtig in allem Guten. (Hebr 13,20)

Es besteht kein Zweifel: Der Friede innerhalb der Gemeinschaft ist die Frucht des Friedens, den Gott in die einzelnen Herzen legt. Noch drastischer bringt das Paulus im Galaterbrief zum Ausdruck: Jähzorn, Neid, Missgunst – alles individuelle Neigungen – führen zu Spaltungen, Parteiungen, wohingegen der Geist Sanftmut und Selbstbeherrschung, damit aber auch Friede, Freude, Freundlichkeit hervorbringt (Gal 5, 19-23).

Von der zerstörerischen Kraft verborgener negativer Regungen im Herzen Einzelner spricht schließlich auch unsere heutige Lesung: „Ich hörte das Flüstern der Vielen: Grauen ringsum! Zeigt ihn an! Wir wollen ihn anzeigen. Meine nächsten Bekannten warten darauf, dass ich stürze: Vielleicht lässt er sich betören, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen“ (Jer 20,10).

Noch einmal: Was von den Einzelnen ausgeht, wirkt in die Gemeinschaft. Unfriede führt zu Spaltungen, Friede zu Miteinander. Als von Gott geschenkter Friede ist dieser Friede Fülle, das Miteinander dynamisches, gelingendes Miteinander.

Die Kirchenväter und frühen Kirchenlehrer haben sich in ihren Schriften intensiv mit dem Thema des Friedens beschäftigt und genau das herausgearbeitet:

Gregor von Nyssa (335 – 394) etwa macht sich Gedanken über die berühmte Stelle aus der Bergpredigt, wo es heißt: „Selig die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.“ (Mt 5,9) Wenn er in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass hier „das Innerste, das Allerheiligste“ angesprochen ist, das ein Mensch besitzt,[2] dann gibt er zu verstehen, dass der Friede aus Gott kommt, der in uns wohnt, und dass dieser Friede Strahlkraft hat.

Bei Augustinus (354 – 430) lesen wir: „Was aber hinterläßt er [Jesus] uns, da er von uns auffährt, außer sich selbst, da er sich von uns nicht entfernt? Denn er selbst ist unser Friede, der da aus beiden eins gemacht hat.“[3]

Ganz im Sinne dieser Vorstellung führt Gregor weiter aus:

Und der Wille Gottes „geht dahin, dieser Friede möge bei allen in solcher Fülle vorhanden sein, dass ihn jeder nicht bloß selbst besitze, sondern aus seinem reichen Überfluss davon jenen mitteile, die ihn nicht haben. Es heißt ja: ‚Selig die Friedfertigen‘; friedfertig ist aber jener, welcher den Frieden einem andren verschafft; freilich kann man nur das anderen gewähren, was man selbst besitzt. Er will demnach, dass du vor allem selbst mit den Segnungen des Friedens gesättigt seiest, dann aber auch, dass du denen davon mitteilest, welche an diesen Gütern Mangel haben.“[4]

 

Aber was ist nun eigentlich gemeint, wenn wir von Frieden im Herzen sprechen? Was müssen wir uns unter diesem Frieden vorstellen?

Wieder bringt uns die Heilige Schrift auf eine Spur.

Im Johannesevangelium lesen wir:

„Die Stunde kommt, und sie ist schon da, in der ihr versprengt werdet, jeder in sein Haus und mich werdet ihr allein lassen. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt“ (Joh 16,32f).

Und im Philipperbrief:

„Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott! Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in der Gemeinschaft mit Christus Jesus bewahren“ (Phil 4, 6f).

Klar wird an diesen Aussagen: Der Friede ist nicht einfach ein äußeres Gleichgewicht. Der Friede, um den es geht, ist Gelassenheit, ist Wissen um die Gegenwart Jesu, ist tiefes Vertrauen in jeder auch noch so aufgewühlten Lage.

Wieder finden wir eine Bestätigung für unsere Annahme in der alten Kirche:

„In treuer Ergebenheit beten sie: ‚Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden!‘“, sagt Leo der Große (400 – 46) über die Friedfertigen.[5]

Und Johannes Chrysostomus (349 – 407) bezeugt: „Wer nämlich die (Gottes-) Kindschaft bewahrt …, der lebt um vieles verklärter und seliger als der, welcher eine Herrscherkorne trägt und in Purpur gekleidet ist. Er genießt in diesem gegenwärtigen Leben viel inneren Frieden und wird aufrecht gehalten durch frohe Hoffnung, er ist nicht (inneren) Stürmen und Aufregungen ausgesetzt, sondern ist allzeit in seinem Innern vergnügt.“[6]

Was auch geschieht: Eine tiefe Ruhe erfüllt diejenigen, die wahrhaft im Frieden sind, eine Ruhe, die innerer Freiheit entspringt.

 

Wie kommen wir zu dieser Gelassenheit?

Vor einigen Wochen kam ein Mann zu mir, der im Augenblick mit heftigen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Er und seine Familie sind nicht nur gläubig, sondern auch ehrenamtlich in der Gemeinde engagiert. Im Laufe des Gesprächs sagte er plötzlich: „Darf ich Sie etwas fragen? Warum lässt Gott das zu?“ Und er fügte hinzu: „Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich gestehen, dass ich zornig bin auf Gott!“ Was antwortet man da? Mir kam der Gedanke: „Sie und Ihre Familie führen ein vorbildliches Glaubensleben. Sie sind Vorzeigekatholiken. A; seinen Frieden wird er uns gebenber jetzt, in der Tragik der Not, die Sie getroffen hat, entdecken Sie etwas in der Tiefe Ihres Herzens, das Ihnen bisher verborgen war: Angst, Verunsicherung, Zorn, Unzufriedenheit. Vielleicht geht es darum, dass das, was in Ihnen verborgen lag, ans Licht kommt. Vielleicht wachsen Sie, wenn Sie da durchgehen. Vielleicht reifen Sie und Ihre Familie zu einem noch viel authentischeren Glauben und legen dann auf eine noch viel tiefere Weise Zeugnis ab.

Das bringt uns auf eine Spur. Was liegt alles in uns verborgen? Wie viel Zorn, Neid, Missgunst, Unzufriedenheit, Anklage usw. ist da in uns, findet sich hinter der Fassade des treuen Kirchgängers? Wenn Gläubige in Formeln beichten – „Ich war unandächtig im Gebet.“ „Ich war lieblos meinen Mitmenschen gegenüber.“ – und wenn sie das wieder und wieder tun und sich offensichtlich nichts ändert, dann denke ich mir: Da steckt doch mehr dahinter! Warum versteckt ihr Euch hinter Formeln? Warum legt Ihr die Dinge nicht schonungslos offen?

Wie kann Frieden sein in den Familien, wenn wir uns dem Konfliktpotenzial in uns selber nicht wirklich stellen? Wie kann Frieden sein in der Kirche, wenn wir die Aufforderung „ertragt einander in Liebe!“ (Eph 4,2) nicht ernstnehmen und uns stattdessen mit unseren Antipathien im Recht fühlen. Wie kann Frieden sein im Staat, wenn wir nicht – wie Paulus das anmahnt – die Freiheit haben, für die Politiker zu beten (1 Tim 2,1f), sondern unserer Enttäuschung und der daraus entspringenden Wut Raum geben? Wir erahnen die Zusammenhänge.

 

Wie kommen wir aus diesen Verstrickungen heraus?

Wieder weist uns ein Kirchenvater, Augustinus, der all das am eigenen Leib erlebt hat, der weiß, wovon er spricht, den Weg. Konfrontiert mit inneren Abgründen, denen er aus eigener Kraft nicht zu entkommen vermag, setzt er seine ganze Hoffnung auf Gott:

„Rufe also aus und rufe von dem innern Streit zu Gott, damit er dir Frieden gibt: ‚Ich unglückseliger Mensch, wer wird mich befreien von dem Leibe dieses Todes? Die Gnade Gottes durch Jesus Christus unsern Herrn‘“.[7]

Augustinus wendet sich an Christus!

 

Wie kann das aussehen?

Ich habe schon hingewiesen auf die Beichte: Offenlegen! Ungeschönt! Wieder und wieder! Die Beichte ist ein Sakrament. Dem Herrn erlauben, dass er in den tiefsten und dunkelsten Schichten unserer Persönlichkeit wirkt.[8] Auch selber denen vergeben, die uns verletzen oder verletzt haben. Vergeben im Gebet, mit Jesus zusammen, in seinem Namen, immer wieder! Das lösen sich Verkrampfungen. Und wenn wir in einer Situation sind, aus der wir nicht herausfinden und in der wir vielleicht sogar Zorn gegen Gott empfinden: Stellen wir uns doch vor das Kreuz an der Wand in unserer Wohnung. Breiten wir die Arme aus als Zeichen der Öffnung und bringen wir unsere Not vor Ihn: unsere Angst, die Verzweiflung, auch den Ärger … Verbarrikadieren wir uns nicht. Geben wir Ihm auch hier die Chance, in der Tiefe unserer selbst zu wirken. „Auch in unserer Seele kann kein Friede herrschen, wenn nicht Ruhe unser ganzes Denken durchdringt“, sagt Johannes Chrysostomus (349 – 407).[9]

Was dürfen wir erwarten?

Es wird, wenn wir uns ernsthaft auf Gott hin öffnen, und gewiss in einem Prozess, der länger, vielleicht sogar lange dauert, Ruhe in uns kommen. Ich kenne Leute, die mir das bezeugen. Es wird jener Friede entstehen, der Gelassenheit und Vertrauen ist. Und das wird wirken in die Umwelt hinein.

Marthe Robin, eine bedeutende Gestalt in der französischen Kirche des 20. Jhds., eine Frau, die durch schweres Leiden gegangen ist und in eine tiefe Gottesbeziehung gefunden hat, eine Frau, die Ausstrahlung besaß und unzählige Menschen berührt und inspiriert hat, eine Frau, der Papst Franziskus 2014 die Verehrungswürdigkeit zugesprochen hat und deren Seligsprechungsprozess weit vorangeschritten ist, äußert in ihrem Tagebuch den Wunsch, dass sie wie eine „Monstranz“ Christus in sich tragen und ihn durch sie hindurch strahlen lassen möchte.[10] Und dann schreibt sie Worte, die tief sind und zum Nachdenken anregen:

„Möge in jeder Familie eine einzige Seele sein, die voll ist von Gott und sie wird damit das Haus erfüllen. Durch die wohltuende Wärme, die sie ausstrahlt, durch den Akzent ihrer … überzeugenden Stimme, im Lichte ihrer reinen Klarheit werden … die verschlossensten und hartherzigsten Herzen sich öffnen.“[11]

Und die Gesellschaft im weiteren Sinn? Kann es einen Zusammenhang geben zwischen individuellem Frieden und der Stabilität des Ganzen? Wenn man in unsere Gegenwart mit ihren allgegenwärtigen Konflikten schaut, dann ist man versucht zu denken, individueller Friede ist etwas für ein paar Wenige, denen es gelingt, sich aus dem Trubel herauszuhalten, was aber keinen Einfluss auf das Ganze hat.

Gewiss hat Kant recht, wenn er das Miteinander von Menschen, ja sogar von Völkern und Nationen durch vernünftige Gesetze geregelt wissen will. Aber als Gläubige, die mit Gott rechnen, sollten wir auch in diesem Kontext die Bedeutung eines „heiligen Restes“, von dem die Bibel mehrfach spricht, nicht unterschätzen (vgl. Esra 9,8; Jes 1,9.10,21.28,5; Jer 23,3) Paulus sagt von diesem Rest, dass er „in der gegenwärtigen Zeit … aus Gnade erwählt ist“ (Röm 11,5). Und für den Propheten Micha ist dieser Rest „inmitten vieler Völker wie der Tau, der vom Herrn kommt“ (Mi 5,6). Um eine Minderheit geht es – so dürfen wir uns das vorstellen -, die, weil sie das Wirken Gottes erfahren hat, unaufgeregt bleibt und nicht nur einen Ruhepol darstellt, der irgendwie wahrgenommen wird, sondern auch aus einem tiefen Vertrauen heraus betet. Die Kirche, der wir angehören, hat dieses Vertrauen. Sie ist überzeugt, dass wir als durch die Geschichte „pilgerndes Volk“ ein „messianisches Volk“ sind, das dem Heil den Weg bereitet:

„Diesem messianischen Volk … eignet die Würde und die Freiheit der Kinder Gottes, in deren Herzen der Heilige Geist wie in einem Tempel wohnt. … So ist denn dieses messianische Volk, obwohl es tatsächlich nicht alle Menschen umfasst und gar oft als kleine Herde erscheint, für das ganze Menschengeschlecht die unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils.“[12]

Fangen wir bei uns selber an! Der Friede beginnt in uns!

Amen.

Pater Wolfgang Sütterlin SDS